Sonntag, 25. September 2016

Volition








Die Verantwortungswahrnehmung in Deutschland gegenüber unserer Vergangenheit hinterlässt nicht selten den Eindruck, als seien Geschehnisse unserer Geschichte in einer anderen Galaxis oder in einem weit zurückliegenden Jahrhundert geschehen und müssten
deshalb von uns lediglich an periodisch wiederkehrenden Gedenktagen bedacht werden, um sich erneut des Unheils zu erinnern und einer Wiederholung vorzubeugen. Mir scheint dies jedoch ein falscher Weg zu sein, um wirkungsvoll eine mögliche Wiederholung unserer unheilvollen Geschichte zu begegnen. Das verbreitete Phänomen des Leugnens, Bagatellisieren und Relativierens historischer Geschehnisse ist Ausdruck und Folge dieser unreflektierten Haltung, welche hierzulande vielfach durch Politiker sowie Rechts- und Ausführungsorganen vertreten wird. Eine Verantwortungswahrnehmung, welche den ihr zugedachten Anspruch zu erfüllen gedenkt, erfordert ein vorausschauendes und vorausdenkendes Handeln mit permanenten Reflektieren einer möglichen Wahrnehmung des eigenen Handelns durch Andere. Wie in anderen Bereichen auch, führt nur ein sich permanent Vergegenwärtigen eines menschlichen Agieren dazu, ein tief verwurzeltes Empfinden über Schicklichkeit oder Unschicklichkeit zu entwickeln. Um dieses an einem Beispiel für jedermann/jedefrau verständlich zu machen, sei auf die psychologisch erforschten Mechanismen der Kindesmisshandlung hingewiesen. Die schnell ausrutschende Hand gegenüber Kindern ist eine Folge eines gedankenlosen Umgangs mit Schutzbefohlenen. Es steht außer Frage, dass beim Umgang mit Kindern Situationen entstehen können, wo man in Stresssituationen sprichwörtlich außer Kontrolle geraten kann. Um einer Eskalation solcher Situationen entgegen zu wirken, hat uns die Natur mit dem Mechanismus der natürlichen Hemmschwelle ausgestattet. Dieser Mechanismus kann jedoch nur dann ausgebildet werden, wenn man sich gedanklich vorweg mit entsprechenden Situationen auseinandergesetzt hat und sich die möglichen eigenen Reaktionen permanent vergegenwärtigt. Diese Eigenschaft des sich Vergegenwärtigen ist somit jenes Rüstzeug, um damit den Toleranzgrad einer natürlichen Hemmschwelle zu trainieren, zu stärken und somit überhaupt erst wirksam werden zu lassen.
Nicht anders verhält es sich mit der Verantwortungswahrnehmung gegenüber unserer Geschichte. Auch hier kann eine unheilvolle Wiederholung nur dadurch verhindert werden, indem man sich permanent die Geschehnisse bewusst macht und das eigene Handeln jederzeit reflektierend den Handlungsmustern der Geschehnisse unserer Historie gegenüber stellt. Unsere Verantwortungswahrnehmung muss ebenso einen ganzheitlichen ethischen und moralischen Anspruch erfüllen und darf deshalb nicht nur jene menschlichen Entgleisungen de-legitimieren, deren Menschenverachtung wir mit der unmittelbaren Monströsität unserer Geschichte assoziieren. Die Wahrnehmung unserer Verantwortung ohne bloße Alibifunktion muss auch jene Verhaltensmuster de-legitimieren, die den monströsen Geschehnissen mit der Absicht der Opfertäuschung vorausgingen. Wir müssen uns auch daran
erinnern, dass Opfer mit Versprechungen einer verharmlosenden Umsiedlung oder einer Waschgelegenheit in Duschräumen arglistig getäuscht wurden, bevor ihnen Unaussprechliches zugefügt wurde. Die Kenntnis dieser Hintergründe muss uns Nachgeborene dazu veranlassen, auch jene menschlichen Verfehlungen zu de-legitimieren welche ethische und moralische Ansprüche wie den Grundsatz des 'Treu und Glaube' nicht Rechnung tragen.
Die Wahrnehmung unserer Verantwortung muss uns veranlassen all jene Mechanismen
zu de-legitimieren, die auch nur marginal zur fatalen Entwicklung unserer Geschichte beigetragen haben. Daraus folgt, dass Verantwortungswahrnehmung nur aktiv betrieben und nicht durch leere Worthülsen an periodischen Gedenktagen zur Beruhigung des eigenen Gewissens ersetzt werden kann. Passivität mit dem Schein der Wahrnehmung einer Verantwortung, ohne jeglichen Einfluss auf unser alltägliches Handeln, käme jenem Agieren des Wegschauen gleich, welches uns als eine maßgebliche Ursachen der fatalen Fehlentwicklung unserer Geschichte bewusst sein müsste. Demzufolge muss es für uns auch verpflichtend sein, heutige Geschehnisse mit historischen Analogien klar und deutlich zu benennen, zu thematisieren, nicht zu verschweigen, um diese dadurch zu de-legitimieren. Falsch verstandene Tabus und hierzulande nach wie vor praktizierte, nicht selten instrumentalisierte Vorbehalte gegenüber der Thematisierung unserer jüngeren Geschichte sind kontraproduktiv und bewirken lediglich jenen Sumpf aus Geschichtsleugnung, Missdeutungen, Fehlinterpretationen und Verschwörungstheorien, welcher zweifelsohne als Nährboden eines wieder entstehenden Unrechtssystems betrachtet werden muss. Nach meiner Erkenntnis ist nur derjenige, der bewusst hinschaut in der Lage Analogien mit Geschehnissen der Vergangenheit zu erkennen und letztlich nur dadurch in der Lage einer Wiederholung vergleichbarer Geschehnisse entgegen zu wirken. Nachdem sich Rechts- und Ausführungsorgane dieser Verpflichtung zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung aufgrund ihrer belasteten Historie geflissentlich entziehen, sind alle anderen verpflichtet diesen Gewissensanspruch stellvertretend für die Rechts- und Ausführungsorgane wahrzunehmen. Dies ist meine unerschütterliche Überzeugung und mein Postulat einer Verantwortungswahrnehmung.
Um abschließend meine Sichtweise wiederum mit den Worten von Hannah Arendt 1) zusammen zu fassen, ist der Schlüssel unser Verantwortungswahrnehmung unser Denken, unser Überdenken und immer wieder unser Nachdenken über unsere Wahrnehmung einer Sache und dem Reflektieren unserer gewonnenen Erkenntnisse sowie dem Versuch einer permanenten Variation unserer Sichtweise, um hierdurch die unterschiedlichsten Blickwinkel eines Sachverhaltes zu erfassen. Diesem Anspruch gerecht zu werden ist mein Verständnis der Wahrnehmung einer Verantwortung, für den ich auch gegen
Vorbehalte unreflektiert handelnder Akteure kompromisslos einzustehen gedenke.