Mittwoch, 29. Juli 2015

Analysis



Die Wahrnehmung unserer Verantwortung aufgrund der belasteten Vergangenheit Deutschlands muss uns höchste Verpflichtung sein, damit das schlimmste Kapitel der Menschheitsgeschichte nie wieder aufgeschlagen werden muss. Leider zeigen gerade jene Institutionen, die seinerzeit maßgeblich zur Entstehung und Etablierung des Unrechtssystem beigetragen haben, bis heute einen Unwillen sich mit ihrer belasteten Vergangenheit auseinander zu setzen.
Dieser fortwährende Unwille hat dazu geführt, dass Angehörige der betreffenden Institutionen nicht selten so agieren, als wären diese monströsen Ereignisse niemals geschehen bzw. als tangiere sie mitnichten ihre belastete Vergangenheit und bedinge somit auch keinerlei Verantwortungswahrnehmung.
Häufig gewinnt man sogar einen Eindruck, als versuchten die betreffenden Institutionen uns zu vermitteln, dass unser Geschichtsbild einer verzerrten Projektion damaliger Ereignisse unterliege und sie sich deshalb bemüßigt fühlen müssten, diesem vermeintlichen Zerrbild entgegenzuwirken.
Dieser Eindruck stellt sich erst recht dann, wenn Richter meinen einen entwürdigenden Umgang mit Beschuldigten rechtfertigen zu können, ohne dabei zu reflektieren, dass exakt dieses durch Schauprozesse aus dem Unrechtssystem überliefert ist und von Historikern als deren Wesenscharakteristik eingestuft wird. Dieser Eindruck stellt sich auch, wenn Ausführungsorgane meinen Maßnahmen ohne jeglichen Nachweis einer zugrunde liegenden Veranlassung rechtfertigen zu können und dabei ausblenden, dass gerade damit ein Fundament einer Willkürlichkeit zementiert wird. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes hatten einstmals unzweifelhaft festgelegt, dass Willkürlichkeit niemals wieder das Handeln von Ausführungsorganen bestimmen darf.
Als Beispiele seien die erschütternden Geschehnisse rund um Asylsuchende bei der Hannoveraner Bundespolizei, die Hintergründe der NSU-Gewalttaten, die Ereignisse des G7 Gipfels 2015, der Justizskandal im Fall Mollath, die hohe Anzahl Missbrauchsdelikte polizeilicher Gewalt genannt und unzählige weitere Fälle, deren Details hier sicherlich den Rahmen dieser Publikation sprengen würde.
Am Beispiel der Geschehnisse um Asylsuchende bei der Hannoveraner Bundespolizei muss man sich vor Augen halten, dass diese nahezu den Berichten von Zeitzeugen
aus Konzentrationslagern gleichen. Ebenso muss man zur Kenntnis nehmen, dass die Geschehnisse von einer
Vielzahl von Zeugen wahrgenommen wurden, die trotz Kenntnis unserer Historie es vorzogen über diese Untaten hinwegzusehen. Auch die NSU-Hintergründe scheinen eine Verstrickung von Rechts- und Ausführungsorganen zu belegen, die angesichts unserer Vergangenheit als geradezu beängstigend einzustufen ist. Ein weiteres erschütterndes Bild eines Selbstverständnisses von Ausführungsorganen belegen hinausposaunte Goebbels Zitate beim G7 Gipfels 2015. Dies alles zeigt unmissverständlich, dass wir immer noch nicht über eine Geschichtsaufarbeitung hinausgekommen sind, welches uns in eine Lage versetzt, dem Umkippen unserer Gesellschaft hin zu einem wiedererstehenden Unrechtssystem adäquat zu
begegnen.





Die nie erfolgte Aufarbeitung der belasteten Vergangenheit von Rechts- und Ausführungsorganen führt dazu, dass deren Handlungen, die zweifelsohne gelegentlich Assoziationen zur dunkelsten Epoche deutscher Geschichte hinterlassen, von ihren Angehörigen häufig klein geredet, verharmlost, relativiert und bagatellisiert werden und dadurch der Befürchtung einer Wiederholung unserer unheilvollen Geschichte kein unrealistischer Unterbau bereitet wird.
Die Erkenntnisse der Psychologie beweisen unstrittig, dass menschliche Entgleisungen letztlich nur durch Aufbau einer natürlichen Hemmschwelle vermeidbar sind, was wiederum ein permanentes sich Vergegenwärtigen entsprechender Umstände voraussetzt und damit einhergehend, ein Reflektieren des eigenen Handelns bedingen muss. Dieser Zusammenhang wird von Rechts- und Ausführungsorganen bis heute starrsinnig ausgeblendet und damit der, von Hannah Arendt 5) veranschaulichte Zusammenhang des unreflektierten Handels als maßgebliche Ursache des Entstehens eines Unrechtssystem untermauert. Hierin liegt eine nicht zu bestreitende Wahrhaftigkeit, welches ein Wiederentstehen eines Unrechtssystem nahezu unausweichlich macht.
Dabei muss auch zur Kenntnis genommen werden, dass das Monströse des dunkelsten Kapitels der Menschheitsgeschichte nur vor dem Hintergrund einer deutschen Wesensart denkbar ist. Kein anderes, als das deutsche
Rechtssystem hat einen derart arroganten, übersteigernden und selbstgerechten Anspruch auf Unfehlbarkeit wie das deutsche. In keinem anderen demokratisch orientierten Rechtssystem wird das Prinzip einer Täter-Opfer-Umkehrung oder einer spekulativen Vorverurteilung so praktiziert wie im deutschen Rechtssystem. Wir erleben von Gerichten immer wieder Begründungen, die Geschädigten zumindest eine Teilschuld an lastet. Auch bei, durch Beweislagen abgesicherte, unumgänglichen Freisprüchen erleben wir immer wieder relativierende richterliche Begründungen mit einem Beigeschmack, der zu vermitteln versucht, man könne einem Beschuldigten zwar Nichts nachweisen, hege aber dennoch Zweifel an dessen Glaubwürdigkeit. Auch hier wird von unserem Rechtssystem nicht reflektiert, dass das Prinzip der Täter-Opfer-Umkehrung durch pauschale Schuldzuweisung an Opfer ein elementarer Mechanismus des Unrechtssystems war. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns schon fragen wie lange wir noch gewillt sind, der ablehnenden Haltung von Rechts- und Ausführungsorganen gegenüber der Aufarbeitung ihrer belasteten Vergangenheit zuzusehen. Unsere Geschichte sollte uns eigentlich eindringlich ermahnen, dass einmal ein Zeitpunkt gekommen sein kann, wo ein Umkippen hin zu einem Unrechtssystem nicht mehr umkehrbar sein wird.
Unter den Juristen des Nachkriegsdeutschlands war Fritz Bauer 6) derjenige, der sich vehement für die juristischen Aufarbeitung des Unrechtssystems einsetzte. Hierfür wurde er von seinen juristischen Kollegen angefeindet, bedroht und vielfach versucht ihn als vermeintlichen Nestbeschmutzer zu diskreditieren und zu isolieren. Anders als vielen seiner juristischen Kollegen ging es ihm um Gerechtigkeit und weniger darum, den Buchstaben des Gesetzes durchzusetzen. Er war Vordenker des heutigen Geschichtsverständnisses und hatte den Anspruch das deutsche Rechtssystem zur Rechtsstaatlichkeit und die deutsche Gesellschaft zur Verantwortungswahrnehmung gegenüber seiner belasteten Vergangenheit hinführen. Er wollte den Deutschen die Augen öffnen und seinen Berufsgenossen ein Spiegelbild ihrer tiefen Verstrickung in das Unrechtssystem vorhalten.


Als besonders eklatantes Beispiel einer differierende Sichtweise des deutschen Rechtssystems gegenüber grundlegenden Menschenrechtsbestimmungen sei auf die Entscheidung des EGMR im Fall 'Heinisch gegen Deutschland' 7) hingewiesen. Während deutsche Gerichte über alle Instanzen der Klägerin des Falles ein schuldhaftes Verhalten unterstellten und damit eine Täter-Opfer-Umkehrung praktizierten, sah der EGMR hierin eine elementare Missachtung grundlegender Menschenrechtsbestimmungen. Dies beweist wieder einmal mehr, dass das deutsche Rechtssystem nicht Willens zu sein scheint, sein Handeln aufgrund seiner belasteten Vergangenheit zu reflektieren. Ansonsten wäre
diesem Rechtssystem nicht entgangen, dass die Täter-Opfer-Umkehrung ein von allen
Historikern, Philosophen, Politologen bestätigtes elementares Wesensmerkmal des Unrechtssystem war. Nachdem das Bundesverfassungsgericht den genannten Fall nicht zur Entscheidung angenommen hat, erscheint ihr Handeln umso fragwürdiger.
In diesem Land hat schon einmal ein höchstes Gericht als berüchtigter Volksgerichtshof mit aufgesetzten, vermeintlich rechtsstaatlichen Ritualen versucht, einen äußerlichen Anschein von Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln. Der Grundgesetzgeber hat dies zweifellos als größte Gefahr unseres Rechtssystems erkannt und uns diesbezüglich auch zur Wachsamkeit gegenüber jenen Institutionen ermahnt, die wir gemeinhin als 'über Allem stehend' erachten. Leider müssen wir heute wieder zur Kenntnis nehmen, dass die aufrechten Absichten des Grundgesetzgebers durch die verweigerte Haltung der Rechtsorgane gegenüber einer Aufarbeitung ihrer belasteten Vergangenheit zur bloßen Schimäre verkommen ist und jegliche reale rechtsstaatliche Bedeutung verloren hat. Man möchte die Gedanken so mancher Richter des Europäischen Gerichtshofes nicht nachempfinden, angesichts der aus Karlsruhe kommenden Entscheidungen - wurde möglicherweise dieses Verfassungsorgan nur deshalb etabliert, um alternden Angehörigen von Rechtsinstitutionen noch einmal die Möglichkeit einzuräumen in opulenten Gewändern umher zu wandeln? Angesichts so mancher Haushaltslücken sollten Verantwortliche doch in der Lage sein, etwas subtilere Alternativen der Geldverschwendung zu präsentieren. Nachdem die Richter des Bundesverfassungsgericht in nahezu den gleichen roten Roben wie einst die Richter des Volksgerichtshofes agieren, könnte man fast den Eindruck einer beabsichtigten Übereinstimmung gewinnen. Oder erleben wir auch hier wieder jenen arroganten, übersteigernden und selbstgerechten Anspruch auf Unfehlbarkeit deutscher Rechtsorgane, der von allen Historikern, Philosophen, Politologen und sonstigen Denkern als jenes Grundübel eingestuft wurde, ohne dem das schlimmste Kapitel der Menschheitsgeschichte überhaupt nicht denkbar gewesen wäre.
Der Grundgesetzgeber hat dem Bundesverfassungsgericht die Verantwortung zur Wahrung des allumfassenden Gesetzeskatalogs des
Grundgesetzes übertragen. Es war mit Sicherheit nicht beabsichtigt nur Hüterin der Sektionen des Grundgesetzes zu sein, bei denen von einem schwergewichtigen Interessengegenpart bzw. bei denen von einem institutionellen Eigeninteresse ausgegangen werden kann. Oberster Anspruch war zweifellos für Kernbestimmungen eine unabdingbare Beachtung sicherzustellen. Dieses scheint beim Bundesverfassungsgericht mehr und mehr in Vergessenheit geraten zu sein. Offenbar hält man Grundrechte für Individuen als weniger schützenswert gegenüber Grundrechten für Körperschaften, Institutionen und anderen Interessengruppen. Wie anders wäre es zu erklären, dass die Einhaltung von Menschenrechten faktisch nur noch außerhalb des Geltungsbereich des Grundgesetzes, wie beispielsweise dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, einklagbar ist. Nach dem dunkelsten Kapitel der Menschheitsgeschichte sollte man eigentlich erwarten, und ich meine dies war das Ansinnen des Grundgesetzgebers, dass sich das Verfassungsgericht als Verfechter und Verteidiger der freiheitlichen Grundordnung wahrnimmt, um sich allen Anzeichen eines wiedererstehenden Unrechtssystem mit unabdingbarer
Entschlossenheit entgegenzustellen. Stattdessen erleben wir anscheinend auch hier jene Kultur des Wegschauen, welches uns auch im privaten Umfeld achselzuckend über häusliche Gewalt
in der Nachbarschaft, dem Elend von Obdachlosen oder der Tragödie von Asylsuchenden hinweg schauen lässt. Historiker, Philosophen und Psychologen haben einst die Nicht-Wahrnehmung des Leides von Opfern als eine
maßgebliche Ursache unserer fatalen Geschichte erkannt. Diese Nicht-Wahrnehmung stellen wir bis heute in der deutschen Gesellschaft fest, wenn in Stammtischmanier diffamierend über Wirtschaftsflüchtlinge, System- und Sozialschmarotzer oder Parallelgesellschaften und Migrationsgegensätze schwadroniert wird. Der mögliche Gewinn durch kulturellen Vielfalt, wird in diesem Land bislang zu wenig wahrgenommen. Es wird hier oft auf jene Situation aus der Zeit des Unrechtssystem hingewiesen, wo emigrierende Deutsche von anderen Staaten bereitwillig aufgenommen wurden. Allerdings wird hierbei übersehen, dass diese Menschen
Ausgestoßene aus dem deutschen Kulturkreis waren, weshalb dieses Beispiel als Argumentation für eine deutsche Willkommenskultur ungeeignet ist. Vielmehr muss diese mit der Wahrnehmung unserer Verantwortung gegenüber unserer Vergangenheit begründet werden, welches uns zum unabdingbaren Bemühen veranlassen muss, aktiv eine offene Gesellschaft anzustreben. Diesem Bestreben müssten sich alle Bereiche unserer Gesellschaft, insbesondere amtliche, staatliche und kommunale Einrichtungen als Handlungsmaxime auf die Fahnen geschrieben haben. Es wäre ein Traum, wenn dieses Land dereinst als Inbegriff einer toleranten und offenen Gemeinschaft gegenüber anderen Kulturen, anderen Lebensweisen und einer Akzeptanz einer Vielfalt in die Welt hinaus strahlen würde und damit das Bekenntnis unserer Verantwortungswahrnehmung nicht mehr den Eindruck eines bloßen Lippenbekenntnisses hinterlassen würde.
Wir werden den Müttern und Vätern des Grundgesetzes und unserer geschichtlichen Verantwortung nicht gerecht, wenn wir, so wie durch das Bundesverfassungsgericht gelegentlich vermittelt, unser Grundgesetz als beliebig auszulegendes Machwerk verstünden, welches zweckdienlich den jeweiligen Absichten angepasst werden kann. Dies hätte zweifellos eine Entsorgung des Grundgesetzes an sich und nicht zuletzt dann auch eine Entsorgung dieses Staates auf der Müllhalde der Geschichte zur Folge.



1) Auf Initiative Fritz Bauers angebrachter Art.1, Satz 1 GG, am Gebäude der Frankfurter Staatsanwaltschaft